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Eure eigenen Geschichten!

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Beitragvon TCCPhreak » 3. März 2009 00:24

Hallo,

nachdem das schon direkt mitübernommen wurde, musste ich das nicht neu posten. Natürlich können und sollen dann jetzt hier auch die ganzen Kritikpunkte reingeschrieben werden. ;-)

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SEH

"Eine Gutenachtgeschichte - bitteeeeee".
Mein Bruder quengelte.
Das ist an und für sich nichts ungewöhnliches. Mein kleiner Bruder quengelt eigentlich immer, wenn er was will. Das fiese daran ist: Meine Mutter lässt sich auch bequengeln und gibt dann oft nach.
Ich quengel nicht. Dazu bin ich einfach schon zu groß. Das heißt natürlich auch, dass ich nicht so häufig bekomme, was ich will, wie Benjamin.
Kleine Brüder sind doof.

Aber in Sachen Gutenachtgeschichte will ich mich gar nicht beschweren. Wenn er ausreichend lange quengelt, setzt sich Mama dann auch nochmal dahin und liest ihm eine vor - oder erzählt ihm einfach so eine Geschichte. Ich kann sie nicht mehr um Gutenachtgeschichten bitten - das ist doch schließlich was für kleine Kinder - aber wenn sie zu erzählen beginnt, setze ich mich auf den Flur, vor die leicht geöffnete Zimmertüre und höre zu. Ich mag es, wenn sie erzählt. Sie hat so eine schöne Stimme.

"Also, es war da mal ein Spiel, das spielten viele Kinder. Und es war nicht nur ein Spiel, es war eine ganze Reihe von Spielen. In diesen Spielen gab es viele verschiedene Spielfiguren und jede Spielfigur gab es ganz oft, aber es gab auch einige besondere Spielfiguren - die hatten eine andere Farbe."

Sie machte einen Moment Pause, so wie sie es gerne mitten in den Geschichten macht. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie Benji mit weit geöffneten Augen an ihren Lippen hing. "und dann?"

"Diese besonderen Spielfiguren waren natürlich sehr selten - so selten, dass manche Kinder beim Spielen noch nie eine gesehen hatten und noch nicht einmal wussten, dass es sie überhaupt gab. Die Kinder aber, die davon wussten, wollten meist auch gerne eine dieser Spielfiguren haben. Und viele Kinder, die dann erstmal eine von diesen Figuren hatten, wollten dann auch noch viel viel mehr davon haben. Es gab sogar einige Kinder, die mogelten, um diese andersfarbigen Spielfiguren zu bekommen."

"Ist das jetzt wie dieses Märchen von dem König, der immer mehr und immer mehr Gold haben wollte und sich wünschte, er könnte alles in Gold verwandeln, was er berührt und dann wurde sein Wunsch erfüllt und tatsächlich konnte er alles, was er berührte, in Gold verwandeln und der war total froh, bis er dann merkte, dass er nie wieder was essen konnte, weil auch sein Essen sich in Gold verwandelte, wenn er es berührte und er das Gold nicht essen konnte? Wie hieß der doch gleich?"
Wenn mein Bruder erstmal einen Gedanken gefunden hatte, konnte er ihm wie ein Wasserfall plappernd bis zum Ende verfolgen. Es konnte einem auf die Nerven gehen, aber es war auch irgendwie knuffig.

"Du meinst König Midas, mein Junge. Und Du hast ein wenig Recht, das hat ein wenig damit zu tun."

Sie nahm sein Schweigen darauf als Anlass, weiterzuerzählen.

"Irgendwann baute der Hersteller der Spiele einen kleinen Trick ein, womit Kinder einfacher und schneller diese besonderen Spielfiguren bekommen konnten. Wenn man sonst sehr lange spielen musste, um zufällig so eine tolle Spielfigur zu sehen, konnte man diesen Trick anwenden - man brauchte ein wenig Übung - und dann eher schnell diese Figuren einfangen. Es fanden sich sogar einige Gruppen, die haben nur noch gespielt, um mit diesem Trick möglichst viele von den Figuren zu bekommen und je besser man diesen Trick konnte und je mehr besondere Figuren man hatte, desto höher war man angesehen."

Sie ließ wieder einen Moment Pause. Manchmal macht sie das auch, um zu gucken, ob man aufgepasst hat - ob man merkt, aus welchem anderen Märchen das stammt und ob man da jetzt die richtige Frage zu weiß. Das hat sie bei mir auch gemacht - damals, als sie noch an meinem Bett saß und mir Geschichten erzählt hat.

In solchen Momenten gibt es etwas in mir, das will ins Zimmer stürmen und laut "Ich weiß die Antwort" rufen, aber natürlich kann ich das nicht tun. Natürlich will ich mich nicht verraten. Außerdem hat mein kleiner Bruder das auch durchschaut.

"Das ist ja wie das Märchen von letztens, wo alle Kinder einen eigenen Esel haben, nur ein Mädchen nicht und die anderen Kinder machen sich immer lustig über das Mädchen und das Mädchen weint und dann kommt eine Hexe, die ihr verspricht, dass sie ihr auch einen Esel geben kann, wenn sie nur tut, was sie sagt und das Mädchen ist so traurig und macht da mit und dann stellt sich heraus, dass die Hexe eine böse Hexe ist und gelogen hat und da ist das Mädchen noch trauriger und dann taucht eine gute Fee auf, die dem Mädchen erklärt, dass es gar keinen Esel braucht und dann weint das Mädchen nicht mehr und wo das Mädchen nicht mehr weint, machen die anderen Kinder auch keine Scherze mehr über sie."
Benjamin kann eine echte Nervensäge sein, aber er ist keineswegs dumm. Das Märchen hat Mama erst vor kurzem erzählt und ich hab mir bis zum Ende gewünscht, dass das Mädchen als Ausgleich am Ende ein wundervolles Pony bekommt, aber die Moral, dass man nicht schlechter als andere ist, nur weil man nicht hat, was sie haben, fand ich auch gut.

"Richtig, Benjamin!" Ich mag die Art und Weise, wie sie "Benjamin" ausspricht. Sie macht das j ganz weich, so wie ein weiches D mit einem weichen Sch - "Bendschamin". Mein kleiner Bruder mag eine Nervensäge sein, aber er hat einen so schönen Namen.
"Du siehst, viele Märchen haben miteinander zu tun. So wie das Mädchen aus dem Märchen keinen Esel bekommen konnte, so schafften viele Kinder den Trick in dem Spiel nicht, so sehr sie es auch versuchten. Sie waren daraufhin sehr traurig, weil sie meinten, nie so eine tolle Spielfigur bekommen zu können."

"Waren die dann überhaupt noch so toll? Wenn viele die bekommen konnten? und kommt jetzt die böse Hexe?"

"Psst. Es gab einige Kinder, die meinten, dass diese besonderen Spielfiguren nicht mehr so besonders wären, wo der Hersteller doch dafür gesorgt hatte, dass viel mehr Leute sie bekamen. Außerdem fanden sie es blöd, dass fast jedes Kind danach quengelte, auch diese Spielfiguren zu bekommen."

Ich meinte, da einen kleinen Seitenhieb rauszuhören. Irgendwann hatte sie auch aufgehört, meinem Quengeln nachzugeben.

"Also beschlossen diese Kinder, den anderen eine Lektion zu erteilen. Sie behaupteten, sie hätten einen weiteren Trick gefunden, mit dem wirklich jeder die andersfarbigen Figuren bekommen könnte - auch wenn er für den anderen Trick nicht geschickt genug war. Man müsste einfach nur einige komische Dinge in dem Spiel machen und statt Können bräuchte man viel Geduld. Damit das echt aussah, haben sie so getan, als hätte das ein Geheimnis bleiben sollen und sich sogar geprügelt, weil der eine angeblich das Geheimnis verraten hatte."

"und die anderen Kinder haben das geglaubt und diesen neuen Trick gemacht?"

"Leider ja. Sie haben Stunden, Tage, ja manchmal sogar Wochen daran gesessen. Vor allem, nachdem einige Kinder behaupteten, sie hätten damit Erfolg gehabt, waren sie überzeugt, dass das stimmt - auch wenn manche Kinder einfach nur gelogen haben."

"und keiner von ihnen hat es geschafft - weil es einfach nicht ging, oder?"

"Da hast Du nicht aufgepasst. Manche von ihnen waren keine Lügner und bekamen tatsächlich ihre besondere Spielfigur. Natürlich war das nur, weil diese besonderen Spielfiguren auch ohne Tricks ab und an auftauchten - aber diese Kinder meinten natürlich, das hätte nur wegen des Tricks geklappt. Und deswegen glaubten immer mehr Kinder, dass der Trick wirklich funktionierte."

Wieder dieser kleine Moment Stille, um sicherzugehen, dass er das alles richtig verstanden hatte. Und dann brach auch schon der Wasserfall los:

"Also ist das wie der Mann, der behauptete, er könnte zaubern und er würde zaubern, dass morgens die Sonne aufgeht und dass abends die Sonne untergeht und tatsächlich ging die Sonne morgens auf und abends wieder unter und alle glaubten, der Mann würde tatsächlich zaubern, in Wirklichkeit aber konnte der Mann gar nicht zaubern und die Sonne ging auch auf und unter ohne dass er was machte."

Ich musste mir eingestehen, dieses Mal war er schneller als ich. So weit war ich mit meinen Gedanken noch nicht gekommen.

Sie stimmte ihm zu.

"Dann kommt jetzt die gute Fee, oder?"

"So einfach ist das diesmal leider nicht. In dieser Geschichte gibt es keine gute Fee. Aber es gab da einen mächtigen Magier. Dieser Magier kannte die Regeln der Spieles - auch die Regeln, die man normalerweise nicht sehen konnte. Er hatte auch mitgeholfen, den anderen Trick zu finden - den, der funktionierte."

"und der hat dann alles wieder gut gemacht?"

"Auch das nicht. Weil dieser Magier so mächtig war und soviel wusste, gingen die Kinder meist zu ihm, wenn sie etwas nicht wussten, eine Frage hatten oder sich nicht sicher waren, ob und wie etwas funktionieren könnte. Das hatten sie aber diesmal nicht gemacht und so erfuhr der Magier von dem falschen Trick erst etwas später. Als er dann davon erfuhr, hat er sich diesen Trick angesehen und ein wenig in den Regeln geguckt und konnte dann sofort sehen, dass dieser Trick nicht funktioniert."

"und dann hat der das den Kindern gesagt?"
Ich merkte, Benji wurde langsam wirklich müde. Das ist so der Zeitpunkt, an dem er besonders quengelig wird und will, dass die Geschichte bald zu Ende ist, damit er sie noch komplett gehört hat, bevor er einschläft. Ich wünschte mir, er würde auch noch bis zum Ende durchhalten, schließlich wollte ich das Ende auch mitbekommen, ohne deswegen extra nachfragen zu müssen.

"Wieder falsch. Dieser Magier sah nämlich auch, dass die Kinder das schon eine ganze Zeit ausprobiert hatten und das für wahr annahmen, ohne dass ihn jemand dazu gefragt hatte. Das machte ihn ein wenig traurig und er meinte, sie hätten es verdient, da noch weiter zu probieren und viel Zeit damit zu verbringen. Auch er meinte, dass die Kinder viel zu sehr nach diesen besonderen Figuren suchten und dabei das ursprüngliche Spiel komplett vergaßen. Also sagte er nicht, dass der Trick falsch ist. Er beschloss sogar, so zu tun, als wäre dieser Trick echt und schrieb da ein paar Zahlen und Regeln zu und sagte, die hätte er aus dem verborgenen Regelwerk rausgeholt."

"Also eine böse Hexe und ein böser Magier?"

"Findest Du, dass der Magier wirklich böse war?"
Ich muss leise geflucht haben. Das war so eine typische Frage, mit der Mama einen stehen lassen konnte - damit man die Nacht und den nächsten Tag darüber nachdenken kann und sie erst am nächsten Abend weitererzählt, wenn man die richtige Antwort hatte. Dsa hätte leicht bedeutet, dass ich das Ende nicht gehört hätte und ich wollte das Ende gerne hören.

"Ich glaube nicht.", ich atmete wieder aus. Wahrscheinlich wollte auch Benjamin nicht das Ende der Geschichte einen ganzen Tag verzögern, "Er wollte nur, dass die Kinder etwas dabei lernen. Aber wie haben sie es denn dann gelernt, wenn er es ihnen nicht gesagt hat?"
Guter, alter Benji. Er glaubt immer, dass die Märchen ein gutes Ende haben - dass die Kinder es gelernt haben, dass Peter die Ente aus dem Bauch des Wolfes rausgeholt hat, dass Hänsel und Gretel danach nie wieder Hunger leiden mussten und dass die Prinzessin wirklich glücklich war bis ans Ende ihrer Tage.

"Er wollte, das die Kinder etwas dabei lernen. Als mehr und mehr Kinder meinten, der Trick würde nicht funktionieren, wollten sie nicht mehr nur daran glauben. Einige wollten wirklich die Regel sehen, nach der das funktioniert und da schrieb der Magier ihnen einen Teil aus dem verborgenen Regelwerk ab. Du musst nun wissen, dass das verborgene Regelwerk nicht wirklich so verborgen war, wie es klingt. Eigentlich konnten viele Kinder es lesen, denn es war bei dem Spiel dabei. Allerdings waren die versteckten Regel in einer geheimen Sprache geschrieben, die nur sehr schwer zu lesen war. Die Kinder konnten also den Teil, den der Magier ihnen gegeben hatte, in den Regeln finden und da der Magier ihnen auch noch den Teil übersetzt hatte und einige Kinder den auch übersetzen konnten, glaubten sie fortan, dass das wirklich die Regeln sind, nach denen der Trick funktionierte."

"Aber das waren sie nicht?"

"Nein. In Wirklichkeit war das ein Test. Der Magier hatte ihnen die Regeln zu dem alten Trick gegeben - dem Trick, der funktionierte. Er wollte, dass die Kinder selber merken, dass das mit dem neuen Trick nichts zu tun hatte und die Kinder, die das herausfänden, wären dann auch würdig, die Wahrheit zu erfahren. Aber die Kinder haben das nicht gemerkt und anstatt die gelegte Spur zu finden und die Lüge zu erkennen, glaubten sie noch viel mehr an sie als vorher."

"Also doch guter Magier - aber doofe Kinder?", es klang schon leicht schläfrig, aber ich hatte doch die Hoffnung, dass die Geschichte rechtzeitig enden würde.

"Am Ende hat dann doch ein Kind etwas Richtiges gemacht. Es ist mit diesem Trick in ein fernes Land gegangen und hat den Kindern dort davon erzählt. Zuerst sah es so aus, als ob das gleiche dort nochmal geschehen würde, aber dann haben die Magier in dem fernen Land das mitbekommen und haben sich diesen Trick genauer angesehen - auch die abgeschriebenen Regeln aus dem verborgenen Regelwerk, die viele gerade als Beweis ansahen."

"Und die haben dann gemerkt, dass..."

"Die haben dann gesehen, dass das alles nicht stimmt und konnten so verhindern, dass auch in dem fernen Land die Kinder an die Lüge glaubten. Trotzdem hat das noch lange Zeit gedauert, bis die Kinder im ursprünglichen Land davon erfuhren und aufhörten, an den falschen Trick zu glauben. Dann aber gab der Magier dort auch sofort zu, dass er sie nur prüfen wollte."

"..."

Es hatte keinen Sinn mehr, länger zu warten. Mein Bruder war eingeschlafen. In gewisser Weise war die Geschichte ja auch beendet, auch wenn mich einige Details noch interessiert hätten. Ich schlich mich zurück in mein Zimmer, die Geschichte im Kopf - zusammen mit der Frage, welche Moral Benjamin daraus ziehen sollte und was ich daraus mitnehmen könnte.

Etwas später kam Mama auch in mein Zimmer, um mir Gutenacht zu sagen. "Du hast wieder gelauscht, nicht?"
Die Art, wie sie es sagte - und ihre Augen - zeigten mir, dass sie es wusste und dass ich keine Chance hätte, es zu bestreiten. Also tat ich es nicht.

"Sag mal - ", wenn sie es schon wusste, konnte ich natürlich auch die Frage stellen, die mich beschäftige, " wieviel von der Geschichte ist denn jetzt eigentlich wahr?"

Sie lächelte mir zu - ihr wunderschönes Lächeln - und meinte dann, "ist das denn wirklich wichtig?"


--- @R16

Grüße,

TCC

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