Cory Doctorow - Little Brother




Schriftliche Werke großartiger Schreiber

Cory Doctorow - Little Brother

Beitragvon TCCPhreak » 7. Juni 2010 22:24

Hallo,

ich weiß.. eigentlich sollte ich die Danger-Reihe beenden, dann endlich mal wieder "Night Sins" zur Hand nehmen und auch schon der Harry-Potter-Fake nebenbei ist eigentlich zuviel... Aber manchmal stolpert man über ein Buch und kann einfach nicht aufhören, es zu lesen. und es wäre unmöglich, es nach dem Lesen _nicht_ weiterzuempfehlen.

Autor: Cory Doctorow
Name: Little Brother (im deutschen wie im englischen)
Genre: Distopie? Thriller? Dokumentation? Schwer zu sagen.

Wie bin ich zu diesem Buch gekommen: Ich bin mir sicher, dass mir mindestens eine Person aus meinem Umkreis schonmal davon erzählt hat. Letztlich bin ich dann aber erst wirklich darauf gestoßen, als ich das Internet zum Thema ebooks durchstöbert habe und auf mehrere Autoren gestoßen bin, die ihre Bücher nicht nur verkaufen, sondern auch frei zur Verfügung stellen. Das Thema klang interessant, also habe ich mir das Buch einfach mal runtergeladen und die ersten Seiten gelesen.. und die nächsten.. und noch weitere.. bis vor etwa zehn Minuten, als es keine weitere Seiten mehr gab.
Es mag nun irgendwie kontraproduktiv für einen Autor erscheinen, das Buch, was er verkaufen will, auch frei zum Download zur Verfügung zu stellen, aber über die Ansicht der Medienindustrie und den Sinn von DRM kann man woanders diskutieren. Ich weiß für mich, dass ich das Buch auch noch einmal auf Papier kaufen werde und möglicherweise auch noch einmal zum Verschenken bestelle und ich glaube, das ist der Punkt, in dem der Autor mit dieser Taktik Erfolg hatte.

Auf kann man sich das Buch in diversen Formaten herunterladen. Reguläres epub, palmreader, iphone, kindle, pdf oder einfach nur plaintext - der Autor hat sich einen Scherz daraus gemacht, die Konvertierungen in alle möglichen Formate entgegenzunehmen. Insofern müsste Ihr noch nichtmal in den nächsten Buchladen gehen, um das Buch probezulesen.

Allerdings scheint es, als ob die deutsche Übersetzung nicht "frei" (im Sinne von Rede, nicht von Bier) ist. Schön ist allerdings, dass wirklich eine deutsche Übersetzung existiert.

Erklärung zum Namen:
1984 von George Orwell ist ein sehr bekanntes Buch und ich betrachte es als ein "must-read" für jeden, der etwas auf seine Umgebung und Privatsphäre achtet und nicht einfach nur blind durchs Leben läuft.
Ein wichtiges Konzept in 1984 ist der "Big Brother", der große Bruder, der alles beobachtet, was man tut, und auf alles, was nicht den Regeln 100% konform ist, böse reagiert.
Little Brother ist in dem Moment der kleine Bruder, welcher diese Überwachung nicht hinnehmen möchte. Das Buch spielt allerdings nicht in Orwells 1984-Universum, sondern in dem, was unsere Welt wahlweise in zwei Wochen sein könnte oder schon seit achteinhalb Jahren ist.

Inhalt:
Wir befinden uns in Kalifornien. Unser Held - Marcus Yallow, 17 Jahre - ist ein technikbegeisterter junger Mann im Kampf gegen die Repressalien der Schule. Dass die von der Schule zur Verfügung gestellten Laptops komplett auf Überwachung eingestellt sind, störte ihn nicht lange und auch das extremst überwachte Schulnetzwerk trickst er mittels TOR aus. Der Schulleiter hat zwar einen Verdacht, dass es sich bei ihm um "w1n5t0n" - den Hacker, der das Schulsicherheitssystem an allen Ecken und Enden überwindet - handelt, kann aber nichts nachweisen. Ironischerweise werden "w1n5t0n" auch Dinge zugeschrieben, für die er nicht verantwortlich ist.
Um mit seinem Team als erster die neue Station eines ARG (Alternate Reality Game) zu erreichen, haut er frühzeitig aus der Schule ab - und was dazu nötig ist, sollte man sich schon im Detail ansehen:
  • Die vorherig installierte Gesichtserkennung wurde wieder abgenommen, weil sie wohl gesetzeswidrig war. Stattdessen werden die Schüler anhand ihrer Schrittmuster erkannt. Ob das so legal ist, ist zur Zeit noch ungewiss, aber die Schule lässt die erstmal laufen, bis sie vom Gegenteil überzeugt wird. Hier hat sich herausgestellt, dass ein paar Steinchen im Schuh das System gründlich aus dem Konzept bringen.
  • Sein Teamkollege hat noch ein Buch aus der Bücherei ausgeliehen. Die Bücher aus der Bücherei haben alle RFIDs, damit man sie einfacher aus dem System entnehmen und wieder eincheken kann. Nebenbei kann man mit RFIDs auch jede Bewegung des Buches (und somit des Schülers, der sie entliehen hat) tracken. Spätestens, wenn jemand die Schule vor Ende der Schulzeit mit so einem Buch verlässt, klingeln die Alarmglocken. Also wird der RFID per Mikrowelle getötet (Umprogrammierung wäre auch eine Option gewesen, aber dann wäre das Buch wohl später falsch einsortiert geworden)
  • Ein unbeliebter Klassenkamerad taucht auf und droht, die beiden zu verpetzen. Marcus mietet sich 20 Sekunden Rechenzeit eines Botnetzes und kurze Zeit später hat dieser Klassenkamerad so viele Nachrichten auf seinem Handy, dass er erstmal selbst Ärger bekommt.
  • Läden in der Umgebung neigen dazu, die Fotos von Schülern zur Schulzeit auf eine Blogseite zu stellen, damit Lehrer die dann dort rausfischen können.
Es drehen Euch schon bei diesen Beschreibungen die Fußnägel um? Ach, die Geschichte hat doch gar nicht erst begonnen.
Im Übrigen: Bis zu der Stelle hatte ich noch gar nicht mal so sehr den Gedanken, dass das Buch fiktional ist.

Die ARG-Spieltruppe trifft sich und eilt zu der Location für das ARG. Ein anderes Team ist direkt hinter ihnen und will sie erpressen ("Wenn ihr uns nicht eine Stunde Vorsprung gebt, wandert dieses Bild auf das Schulschwänzer-Blog"), aber eine Minuten später ist das das geringste Problem. Zunächst bebet der Boden wie bei einem Erdbeben. Wie sich später rausstellt, haben Terroristen eine Brücke gesprengt.

Bei dem Versuch, Hilfe für ein Teammitglied zu bekommen (irgendein Ar...l... hat tatsächlich das Chaos bei Drängen zu den Schutzbunkern für eine Messerattacke genutzt), halten sie einen Jeep an. Die Insassen ziehen ihnen Säcke über den Kopf und nehmen sie mit. In dem Moment glauben sie fest, in der Hand der Terroristen zu sein.

Wie sich herausstellt, ist es Homeland Security.. und SIE werden für Terroristen gehalten. Während der Schulzeit an einem sehr schulfremden Ort zu sein, ist verdächtig und das ARG-Equipment im Gepäck wirkt auch sehr zu Ungunsten.
Ich weiß nicht, ab wo man von "Folter" reden kann, aber letztlich würde ich doch sagen, dass sie aus Marco die Passwörter für seine Rechner und Telefon und alles herausfoltern. Schließlich wird er - mit zwei anderen aus seiner Viererclique - freigelassen, erhält aber noch den Hinweis, dass er von nun an unter Überwachung steht.

Marcus will das nicht auf sich sitzen lassen und beschließt, den Kampf gegen diese Behörde aufzunehmen, muss allerdings auch feststellen, dass sich Kalifornien nach dem Anschlag verändert hat: Homeland hat durch neu erlassene Gesetze weitaus mehr Rechte zur Überwachung. Da kann man auch schonmal verhört werden, weil man "untypische Muster auf seiner Bahnkarte (natürlich RFID)" hat. Der einzige Ausweg scheint ein verschlüsseltes Subnetz im Internet - doch auch das scheint nicht lange sicher...

---

Was mich an diesem Buch wirklich gefallen hat, ist die durchgehende Paranoia. Es scheint wirklich alles überwacht zu werden, aber da das mit Terrorismus gerechtfertigt wird, gibt es nur weniger, die dagegen rebellieren. Selbst Marcus Vater hält viele Maßnahmen zum Schutze der Sicherheit vertretbar - auch noch als er an einem Tag selber Opfer der überzogenen Kontrollen wird. Marcus hält übrigens seine Pläne und auch seine Entführung vor seinen Eltern geheim. Es gibt sehr witzige Momente - wenn die Gruppe um Marcus das System auf eine Art und Weise austrickst, die einfach nur wunderschön ist. Es gibt romantische Momente - Marcus lernt zwischenzeitlich einen Engel kennen - und es gibt immer wieder Momente, in denen man sich fragt, ob das alles so richtig ist.

Denn Fragen wirft das Buch zweifelsohne auf: Wenn man Sicherheitsmaßnahmen umgeht, wird man damit nicht auch selbst zu einem Terroristen? Wo fängt Terror an? Was ist im Kampf gegen Terror vertretbar und wie sicher ist (gefühlte?) Sicherheit im Verleich zur Freiheit? Das Buch lässt es sich auch nicht nehmen, die Unabhängigkeiterklärung selbst zu zitieren und dann in Frage zu stellen. Es ist sicherlich auch eine Anspielung auf 9/11 und die darauf folgenden "Sicherheits-"Updates.
Der Stoff ist nicht gänzlich neu. Auch schon der Film "Der Anschlag" geht stark in die Richtung (bis hin zu einer Rede, die Bush fast wörtlich zum 11. September übernommen hat), aber das macht ihn nicht weniger real.

Wie schon gesagt: Das Buch ist frei, Ihr könnt es einfach anfangen und soviel lesen, wie Ihr wollt. Ich würde auch dazu raten, die Philosophie des Autors zum Thema "freie Bücher" durchzulesen und möglicherweise könnten sich auch andere Bücher des Autors lohnen...

(auf Zitate wurde hier verzichtet. Die deutsche Version besitze ich nicht, die englische kann man auch so komplett lesen. Sollte jemand explizit einige Lieblingstextstellen fordern, kann ich die aber gerne noch nachlegen)

Kleiner Nachtrag: Ich bin inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass das Buch auch wirklich ein "Jugendbuch" ist. Hauptpersonen sind Jugendliche, die Schule nicht einen nicht geringen Teil der Geschichte ein und die Erwachsenen sind zum größten Teil Statisten oder gar auf der negativen Seite. Zudem wird kaum darauf eingegangen, dass Homeland auch Erwachsene festgenommen und eingesperrt und gefoltert hat und einige Dinge (wie der romantische Teil) werden auch eher jugendlich beschrieben.
Das mag jetzt nicht direkt negativ sein, aber es grenzt die Zielgruppe etwas ein. So mancher, der das Buch vielleicht lesen wollte, fühlt sich vielleicht zu alt, um sich ein Jugendbuch "anzutun".
Das ist auch insofern schade, dass dort Technik erklärt wird, von denen manche "Erwachsene" keine Ahnung haben (aus der Perspektive kann man das auch als ein Technik-Aufklärungsbuch betrachten). Die Technik in dem Buch ist nämlich nicht einfach nur "eine realistische Vision", sondern stellenweise schlichtweg Realität - "Arphids", Kameraüberwachung in London, TOR, Verschlüsselung, ARGs, Phreaking, The GIMP, Abhörung ...
Zugegeben: Einige Dinge sind (noch?) nicht real - an der ParanoidLinux-Distro wird noch gefeilt und die Xbox Ultimate ist noch nicht auf dem Markt - aber sind dann doch so gut erklärt, dass man sich mittels Internet überzeugen muss, dass sie _nicht_ doch real sind. Es wird auch explizit dazu aufgerufen, sich mal die Technik in der realen Welt anzusehen und zu vergleichen und eventuell einige Dinge mal nachzubauen. Wenn man bereits technisches Interesse hat, kann das Buch eine wahre Freude sein; ansonsten könnte es durchaus technisches Interesse wecken.

Grüße,

TCC
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